
Nahezu täglich erreichen mich Fragen von Patientenseite, die sich um das Thema Darm bzw. Darmgesundheit drehen und hier im Speziellen die Einnahme von Probiotika betreffen.
Probiotika sind in den letzten Jahren zu einem neuen Hype avanciert. Was um die Jahrtausendwende der "run" auf Nahrungsergänzungen (orthomolekulare Produkte) darstellte, wird nun mehr und mehr von einem fast undurchschaubaren Angebot an Probiotika abgelöst.
Dabei habe ich den Eindruck, dass irgendwie alles durcheinandergeworfen wird und Patienten wie auch so mancher Therapeut sein alleiniges Heil in der Einnahme/Verordnung von irgendwelchen Probiotika finden will. Das Probiotikum oder besser noch: viele verschiedene Probiotika sollen es "richten"...
Die "Schulmedizin" bzw. der "Markt" hat den Darm als Spielfeld enormer finanzieller Gewinne neu für sich entdeckt. Was in der Erfahrungsheilkunde seit Jahrhunderten als selbstverständlich erachtet wird, nämlich, dass der Darm eine sehr entscheidende Rolle bei der Gesamtgesundheit des Menschen darstellt und seit jeher in eine ganzheitliche Therapie immer mit einbezogen wird, scheint im vergangenen Jahrzehnt auch gewinnträchtig die Schulmedizin und den freien Markt ereilt zu haben.
Aber auch dieser neue Hype um Probiotika stellt alleine keinen ganzheitlichen Ansatz dar.
1. Die Reduktion auf ein Symptom statt Ursachenforschung
Probiotika werden oft als eine Art „Wunderpille“ beworben, die alle Darmprobleme lösen können. Dieser Ansatz zielt jedoch vor allem auf die Behandlung von Symptomen ab, ohne die tieferen Ursachen von Darmproblemen wie Dysbiose, Entzündungen oder Verdauungsstörungen zu adressieren.
- Beispiel: Jemand mit Blähungen oder Durchfall nimmt Probiotika ein, ohne zu berücksichtigen, ob die Ursache in einer bakteriellen Fehlbesiedlung (z. B. SIBO), einer entzündeten Darmschleimhaut oder einem Nährstoffmangel liegt.
Oftmals liegt nicht einmal eine ärztliche Diagnose, z.B. aufgrund einer Magen-Darm-Spiegelung, vor. Oder diese wurde durchgeführt, lieferte aber keine neuen Erkenntnisse. Dann werden teilweise Probiotika wild gemixt, frei nach dem Motto: "Viel hilft viel", irgendeines wird schon helfen...
Dass dadurch dem Darm u.U. noch mehr Schaden zugeführt wird, scheint tatsächlich die Wenigsten zu interessieren.
Es war schon immer einfacher, irgendwelche, vielversprechende Präparate einzunehmen, als sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und seinen gewohnten Lebens- und Ernährungsstil einer genaueren Prüfung zu unterziehen. Was in der westlichen Welt üblicherweise als gesund gilt (z.B. Frühstücksmüsli mit frischen Früchten, Joghurt etc.), würde in der TCM als "gesundes Frühstück" glattweg durchfallen.
Nicht umsonst liegt der Schwerpunkt der TCM-Ernährungslehre auf dem Stoffwechselgeschehen, was hauptsächlich durch die Milz bestimmt wird. All die heutigen Zivilisationskrankheiten, Dysbiosen, Intoleranzen usw. liegen oftmals einer vollkommen falschen, viel zu "kalten" Ernährungsweise zugrunde, die massenhaft Feuchtigkeit und Schleim produziert: Hauptursache vieler chronischer (chronisch-entzündlicher) Erkrankungen.
2. Der Darm ist mehr als nur Mikrobiota
Der Darm umfasst nicht nur die Mikrobiota, sondern ein komplexes Zusammenspiel aus verschiedenen Systemen:
- Darmschleimhaut (Mucosa): Sie bildet die Barriere zwischen Darm und Blutkreislauf und ist entscheidend für die Immunabwehr.
- Immunsystem: Etwa 70 % des Immunsystems sitzen im Darm und regulieren Entzündungsprozesse im gesamten Körper. (Peyer'sche Plaques)
- Nervensystem: Das enterische Nervensystem („Darmhirn“) kommuniziert mit dem zentralen Nervensystem und beeinflusst die Psyche.
- Verdauungssäfte und Enzyme: Ohne ausreichende Magensäure oder Pankreasenzyme kann die beste Mikrobiota die Verdauung nicht retten.
Probiotika allein können diese komplexen Systeme nicht balancieren. Ein gesunder Darm benötigt mehr als nur eine Ansammlung nützlicher Bakterien.
3. „One-size-fits-all“ – das Problem der Pauschalisierung
Der Hype um Probiotika suggeriert, dass eine bestimmte Kapsel oder ein fermentiertes Lebensmittel für alle Menschen gleichermaßen geeignet ist. Dabei ist die Darmgesundheit hochindividuell und von vielen Faktoren abhängig, wie:
- Genetik: Individuelle genetische Dispositionen beeinflussen die Zusammensetzung der Mikrobiota.
- Ernährung: Eine ballaststoffarme oder einseitige Ernährung kann die Wirkung von Probiotika hemmen.
- Lebensstil: Stress, Schlafmangel und Bewegungsmangel wirken sich stärker auf die Darmgesundheit aus, als Probiotika es ausgleichen könnten.
- Krankheiten: Bei Erkrankungen wie SIBO, Histaminintoleranz oder Leaky-Gut-Syndrom können Probiotika sogar kontraproduktiv sein.
Ein ganzheitlicher Ansatz muss den individuellen Zustand des Darms berücksichtigen und nicht nur blindlings Probiotika empfehlen.
4. Probiotika als Kommerzprodukt – der Einfluss der Industrie
Der Boom um Probiotika wird stark durch die Nahrungsergänzungsmittel-Industrie vorangetrieben, die enorme Profite in diesem Bereich sieht.
- Fehlende Transparenz: Viele Produkte enthalten keine ausreichenden Mengen lebender Bakterien oder Stämme, die tatsächlich wissenschaftlich bewiesen sind.
- Fehlender Kontext: Probiotika werden oft als „Stand-alone“-Lösung beworben, ohne darauf hinzuweisen, dass sie nur in Kombination mit einer gesunden Ernährung und Lebensweise sinnvoll sind.
- Kritische Stämme: Manche Produkte enthalten Bakterienstämme, die bei bestimmten Menschen oder Erkrankungen problematisch sein können (z. B. Histaminproduktion).
Probiotika können das Mikrobiom vorübergehend stabilisieren, greifen aber nicht tief genug, um die wahre Balance im Körper wiederherzustellen.
Was ein ganzheitlicher Ansatz wirklich bedeutet
Ein ganzheitlicher Ansatz für die Darmgesundheit berücksichtigt alle beteiligten Faktoren und Systeme. Hier einige Aspekte, die über Probiotika hinausgehen:
1. Ernährung als Fundament
- Ballaststoffe: Präbiotika wie Flohsamenschalen oder resistente Stärke füttern die Mikrobiota und fördern das Wachstum gesunder Bakterien.
- Nährstoffe: Zink, L-Glutamin und Omega-3-Fettsäuren sind entscheidend für die Regeneration der Darmschleimhaut.
- Individuelle Anpassung: Bei Unverträglichkeiten (z. B. Histamin, Fruktose, Gluten) sollte die Ernährung speziell angepasst werden.
2. Lebensstil und Stressmanagement
- Stressreduktion: Chronischer Stress wirkt sich negativ auf die Darmgesundheit aus, da er die Produktion von Verdauungsenzymen hemmt und die Schleimhautbarriere schwächt.
- Schlaf und Bewegung: Ausreichender Schlaf und moderate Bewegung fördern die Durchblutung des Darms und die Peristaltik.
3. Unterstützung der Verdauungsorgane
- Magensäure: Bitterstoffe (z. B. Enzian oder Wermut) regen die Magensäureproduktion an, was die Verdauung verbessert.
- Leberentgiftung: Kräuter wie Mariendistel oder Artischocke unterstützen die Entgiftung.
- Milz: Die Milz als Hauptstoffwechsel-Organ der TCM ist für das Verdauungsfeuer verantwortlich und für die Regulation sämtlicher Stoffwechselvorgänge.
4. Regeneration der Darmschleimhaut
- Probiotika können ohne eine intakte Darmschleimhaut nicht dauerhaft wirken. Der Fokus sollte auf der Heilung des Leaky-Gut-Syndroms liegen.
- Natürliche Heilmittel: Knochenbrühe, Aloe Vera oder Kurkuma helfen, die Darmschleimhaut zu regenerieren.
- Probiotische Lebensmittel: Fermentierte Produkte wie Sauerkraut oder Kimchi können in kleinen Mengen unterstützend wirken – aber nur, wenn keine Kontraindikationen, z.B. Dysbiose oder SIBO vorliegen.
Eine Gesundung des Darms und des Organismus überhaupt kann nur mit Hilfe eines GANZHEITLICHEN Ansatzes vollzogen werden. Und das bedeutet auch die Einbeziehung von Ernährung, Lebensgewohnheiten, psychische und geistige Verfassung. Kurzum: eine ganzheitliche Betrachtung von Körper-Seele-Geist (mit Geist ist hier nicht das Denkvermögen gemeint 😉).